Jean Bagnol
Commissaire Mazan und die Spur des Korsen
Kriminalroman
Wie vertraut sich seine Hand in meiner anfühlt, dachte Zadira Matéo. Als hätte sie den Druck seiner Finger schon ein halbes Leben gespürt, aber erst mit Jules den Mann zu dieser Hand gefunden.
In Mazan. Ausgerechnet. Nach fünf Monaten Hin- und Her, ich mag dich nicht, ich dich aber sehr, ich will dich, ich dich nicht mehr.
Zadira lächelte, während sie und Jules Hand in Hand durch das fünfhundert Jahre alte Stadtportal, die Porte de Mormoiron, aus Mazans Altstadt traten. Sie trug noch immer das rote Kleid, in dem sie mit ihm unter den Sternen getanzt hatte. Sie fühlte sich lebendig, ihre Haut war auf diese einzigartige Weise wohlig wund, wie sie sich nur nach sehr langen, sehr reuelosen Liebesspielen anfühlte.
„Was?“, fragte Jules Parceval auf einmal zärtlich. „Was schaust du mich so an?“
„Tue ich das?“
Er lächelte.
„Ja. Könntest du bitte nie damit aufhören?“
Sie hatte Lust, ihn statt einer Antwort zu küssen. Spätestens morgen, Montag, ab acht Uhr, wäre sie wieder eine andere: Lieutenant Matéo, die Polizistin, ehemalige Drogenfahnderin, Kriminalbeamtin der Police National.
Aber jetzt nicht. Jetzt noch nicht.
Sie überquerten Mazans Avenue de L’Europe, die wie ein Schutzring um die innere Altstadt lag, um zur Boulangerie Banette in dem rot getünschten, schmalen Haus auf der anderen Straßenseite zu gelangen.
Elise, die Verkäuferin begrüßte sie mit bedeutungsvoll fragendem Blick, und warf ihrer Gehilfin aus Beaucet einen raschen Blick zu. Mazan würde heute zu den frischen Baguettes und Croissants einige saftig ausgeschmückte Neuigkeiten serviert bekommen, dachte Zadira.
Oh lá lá, die neue Polizistin aus Marseille ist in einem roten Kleid gekommen! Doch, wirklich, ein Kleid, statt der ewigen Hosen und Baseballcaps!
Und jetzt kommt’s: Sie hatte einen Mann dabei!
Nein!
Doch!
Oh!
Der Tierarzt, und sie haben zwei Brioche gekauft, ohne nur ein einziges Mal mit dem Händchenhalten aufzuhören!
Na, sowas.
Ja, doch – und sie ist tätowiert auf dem Rücken!
Ach?
Zadira lächelte bei dem Gedanken an diese sicher nicht allzu fiktiven Gespräche.
Als sie und Jules mit den zwei duftenden Brioches wieder in das septemberlich pudrige, goldblaue Morgenlicht traten, hörte sie das charakteristische Geräusch eines aufgetunten Scooter-Rollers. Wie ein Schwarm mechanischer Hornissen, der sich rasch näherte. Aus den Augenwinkeln nahm Zadira die beiden schlanken Gestalten unter den Helmen wahr, die hintereinander auf dem Motorroller saßen.
Jules drückte sanft ihre Finger. Wieder lächelte Zadira ihn an. Sie würde nie damit aufhören, ihn anzusehen, wenn er das tatsächlich so wünschte. Ob sie ihm das jemals würde sagen können? Dass sie für ihn alles zurück lassen würde. Alles.
Ja. Vielleicht sollte sie es tun.
Jetzt.
Sie holte Luft..
Der Scooter hielt mit laufendem Motor neben ihnen an, die getönten Visiere der Helme drehten sich ihnen zu.
„Sind Sie Zadira Matéo?“, fragte der Fahrer.
„Ja“, antwortete Zadira, ohne zu zögern. Ohne nachzudenken. Sie lächelte immer noch.
Der Mann hinter dem Fahrer richtete eine Pistole auf Zadiras Herz.
Zwei Schüsse zerfetzten die Welt.
Capitaine Lucien Brell hörte die beiden Schüsse, kurz nachdem die schwere Tür der provisorischen Wache mit vernehmlichem Rumsen hinter ihm ins Schloss gefallen war. Es hallte jedes Mal in dem Container nach, den die Einwohner von Mazan als „Zuckerwürfel“ bezeichneten.
Schüsse? Das konnte nicht sein. Das hier war Mazan, nicht Marseille. Eine Kleinstadt im Herzen der Provence. Hier fielen keine Schüsse auf offener Straße.
Seine Fassungslosigkeit wurde dadurch verstärkt, dass Brell bis zu diesem Augenblick in seliger Erinnerung an den vorherigen Abend geschwelgt hatte. An das Weinfest im Château Pesquié, bei dem er zum ersten Mal seine neue Uniform als frisch ernannter Chef de Police getragen hatte. Wie ihm die Frauen bewundernd nachgeschaut hatten und sogar mit ihm hatten tanzen wollen. Mit ihm, dem dicken Lucien Brell! Und dann, ja, dann hatte er wirklich getanzt.
Zuerst mit Natalie Le Goc, ihr zarter Körper war ihm so zerbrechlich zwischen seinen großen Händen erschienen, und anfangs fürchtete er, ihr versehentlich wehzutun. Doch die Bretonin aus Guerande hatte ihm schnell die Scheu genommen.
Später hatte er mit Blandine Hoffmann getanzt, der Polizeireporterin des Vaucluse Matin, für die Brell schon lange eine Schwäche hegte. Und danach waren andere gekommen. Wahrscheinlich hatte Lucien an diesem Abend mehr Frauen im Arm gehalten als in seinem ganzen Leben zuvor. Kein Wunder, dass sein Gehirn sich weigerte, von zwei dummen Schüssen aus diesem Paradies vertrieben zu werden.
Waren es wirklich Schüsse gewesen? Konnte nicht auch ein schadhafter Auspuff für das Knallen verantwortlich sein?
Nein. Er wusste genau, wie Schüsse klangen. Trockene, harte Schläge, unverwechselbar. In seiner Stadt. An einem Sonntagmorgen.
In seinem Magen knisterte es. Angst. Diffus wirbelnde Angst.
All diese sich überlagernden Gedanken und Bilder hatten kaum zwei Sekunden gedauert, Brell riss sich aus seiner Erstarrung, eilte auf den Platz vor der Mairie, der menschenleer unter den Platanen lag. Noch während er vom Rathaus Richtung Avenue de l’Europe lief, klingelte das Diensttelefon an seinem Uniformgürtel. Er meldete sich, heftig atmend, aus alter Gewohnheit mit dem Dienstgrad, den er bis vorgestern innegehabt hatte: „Sergeant Brell!“
Dabei registrierte er, wie ein heiser röhrender Scooter mit zwei Gestalten in viel zu hohem Tempo über den Kreisel am Place de l’Europe raste und stadtauswärts in Richtung Carpentras davonjagte.
Verdammte Halbstarke.
„Lucien!“ Elise Morand von der Boulangerie Banette an der Avenue de L’Europe, „Lucien, die Polizistin …!“
Er hörte ihre Worte. Aber er begriff sie nicht.
Brell setzte sich in Bewegung, die Hand um das Telefon verkrallt. Er vernahm seinen eigenen keuchenden Atem, als käme der aus einer Dampfmaschine, die neben ihm lief.
Schon sah er die Menschentraube vor Elises Boulangerie. Stimmen riefen, andere Leute eilten herbei. Autos bremsten ab, jeder dritte hatte ein Handy am Ohr. Sein eigenes klingelte wieder.
Der notärtzliche Dienst der Feuerwehr.
Sie würden kommen.
So schnell sie konnten.
Brell erreichte den Pulk vor der Boulangerie und dem roten Haus, schob energisch die Neugierigen beiseite.
Dann sah er sie.
Zadira lag, an den knienden Jules gelehnt, auf dem Boden, ihr Gesicht seinem zugewandt, ihre Beine zuckten unaufhörlich, ihr rotes Kleid war dunkel vom Blut, das sich links und rechts von ihrem Körper ausbreitete, ihre Hände zu Fäusten zusammengekrampft. Ihr Mund stand offen, keuchend und abgehackt ging ihr Atem.
Brell ging Jules gegenüber in die Knie.
„Der Notarzt ist unterwegs“, sagte er. Jules schaute nicht auf, seine Hände blieben auf Zadiras Oberkörper gedrückt, wo das Blut herausquoll, er nickte nur.
„Wird sie …?“ Brell verstummte, er konnte es nicht fragen, nicht einmal denken. Jetzt hob Jules den Blick. Die Verzweiflung in seinem Gesicht machte Brell krank.
„Sie saßen auf einem Scooter“, stieß Jules gepresst hervor.
Der Scooter!